Romana Del Negro

ROMANA DEL NEGRO _ CV


IKARUS

Der Traum vom Fliegen geht mit der Vorstellung von Freiheit einher. Er beinhaltet aber auch die Idee des Überblicks und der tieferen Einsicht in die Rätsel des Lebens.

Romana Del Negro thematisiert in ihrer Bildserie den Traum vom Fliegen. Die Serie besteht aus drei Blöcken zu je vier Blättern. Jedes Blatt wiederum besteht aus mehreren, einander überlagernden Farbschichten. Einige dieser Schichten sind leicht transparent, wie Wolkenschleier, durch die der Himmel, die Sonne, höher hängende Wolkenschichten zu sehen sind.

Die unterste Schicht besteht aus Tusche. Es sind abstrakte Strukturen, vorwiegend im Blau-Grün-Rot-Bereich, die an Wirbel erinnern oder an Planeten, die auf ihren Bahnen langsam umeinander kreisen. Der Tanz des Kosmos. Das Uhrwerk des Lebens. Für die nächsten Schritte hat Romana Del Negro Schablonen erstellt. Mithilfe dieser Schablonen hat sie zunächst eine weisse Schicht aufgetragen, welche die blau-grünen Grundierung in Formen schneidet. Diese Formen erinnern an einen Vogel, an einen Schmetterling (in der antiken Mythologie ein Symbol der Seele) oder auch an die griechische Sagenfigur Ikarus. Der junge Ikarus stieg mit selbstgebauten Flügeln in den Himmel auf. Berauscht vom Fliegen und der Lust an der Selbstbefreiung, kam er der Sonne zu nahe. Die wächsernen Fixierungen seiner Flügel schmolzen und er stürzte ins tiefe Dunkel des Todes.

Über dieser weissen Struktur liegen blaue, rote, goldene Formen, ebenfalls mit Schablonen aufgetragen. Manche gleichen Vogelschwärmen, andere wirken eher wie abstrakte Darstellungen von Luftströmungen. Alles an diesen Bilder scheint in Bewegung zu sein. Das liegt an den dynamisch wirkenden Formen sowie an den teils durchscheinenden Farben, die den Bildschichten etwas Fliessendes geben. Verstärkt wird dieser Eindruck von Bewegung durch die Konstruktion der Serie. Die vier Blätter eines Bildblockes ergeben jeweils eine Einheit, die an einigen Stellen wie Puzzle zusammengefügt scheinen. Es gibt Strukturen, Elemente, die von einem Blatt zum nächsten fortgeführt werden. Man kann sich vorstellen, dieses Puzzle auseinanderzunehmen und neu, anders zusammenzusetzen. Und dadurch eine andere Geschichte zu erzählen. Noch scheint alles möglich. Denn die Bilder scheinen einen Kippmoment zu fixieren: Ikarus auf dem Zenit, vor dem Fall. Einen Vogel im Gleitflug, bevor er mit den Flügeln schlägt.

Die Serie verbildlicht jene kurzen, kaum greifbaren Momente des Wechsels, die sich im Leben ständig ergeben. Jede Bewegung, jede Entscheidung löst einen vorhergegangenen Zustand auf. Im Kleinen, wie im Grossen: Die Hand, die eben noch ruhig auf dem Tisch lag und die jetzt zur Kaffeetasse greift. Oder zum Stift, mit dem der Vertrag für einen neuen Job unterzeichnet wird. In jeder Veränderung steckt auch der kurze Moment des Noch-Nicht und Nicht-Mehr.

Alice Henkes, Kulturjournalistin_ 27.10.2023


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